Ein „Junker“ und die Weiße Nacht von St. Petersburg
Bericht: © ex Funkoffizier Günter Klepke  -  Fotos: Stan Shebs / Quelle: Wikipedia (1) und G. Klepke (1)

Es war ein sehr heißer Sommer in diesen 60er Jahren, und sicherlich waren wir nicht die Zierde der deutschen Handelsschiffahrt. Länger als ein halbes Jahr waren die meisten schon an Bord. Immer wieder war das Schiff in Deutschland; wir kamen aber nicht nach Hause. Leningrad - Rotterdam war die Route. Eine eigenartige Seefahrt: einige Tage auf See und einige Wochen in den Häfen. 
Durch den Kiel-Kanal. ‚Ramdösig’ wurde man, sah man die Leute am Kanal flanieren. In Rotterdam das Liegen im Strom. An Land Amstel und Indianerblut[¹]. In Leningrad die Obhut des Interclubs. 
Viele trübe Erfahrungen hatte die Reederei mit uns und wir mit der Reederei gemacht. Es war die große Zeit der Holzfahrt. 
Jeder an Bord hatte so seine Schwächen. Meinte jemand, er sei ohne Fehl; musste man nur lange genug warten bis Gewesenes getoppt wurde. 
Der Kapitän kam aus Österreich, ledig war er. Und sicherlich wollte die Reederei ihm etwas Gutes tun: sechs Studienrätinnen schickte man ihm als Passagiere an Bord. Sichtlich freute er sich: die große Auswahl, wie ein Sechser im Lotto. Leicht gedämpft wurde die Freude später, sie waren alle schon pensioniert, und sie hatten viele Fragen an ihn. 
So ganz zart ging man nicht miteinander um: strich er uns Kantine und Vorschuss, so zeigten wir ihm recht unverhohlen unsere Vorliebe für österreichische Kapitäne. Da gab es eine Freibordmarke und auch Rollperioden wurden gemessen. Wie dicht lagen nun wirklich gewichtsmäßiger und räumlicher Schwerpunkt beieinander? 
Das Wetter war schön und die Reederei sah vieles anders. Von Bord des Lotsenbootes sah er sich noch einmal „sein Schiff“ an, was aber schon nicht mehr seines war. Er hatte einen Sack gekriegt. Seltene Einmütigkeit, dass er den auch verdient hatte. Es war viel Fluktuation im personellen Bereich. 
Lebhaft erinnere ich den Kochsmaaten, der sein Hab und Gut auf ein Bettlaken warf, vier Knoten machte und damit in Kiel-Holtenau von Bord gehen wollte. Erst als er schriftlich anerkannte, dass es sich um ein reederei-eigenes Laken handelte, ließ man ihn gehen.
Eigentlich gab es nur die Möglichkeit, mitmachen oder auszuscheren. 

Es herrschte Kalter Krieg. Aber in der Seefahrt hatte sich vieles schon eingependelt. Und von vielen Leuten wurde die Seefahrt auch als Loch für die strengen Visum-Bestimmungen angesehen. „Unangemustert befinden sich folgende Personen an Bord“. Diese Leute wurden an Bord als Passagiere behandelt, an Land jedoch wie Seeleute. Das hieß, wie wir, hatten sie um Mitternacht an Bord zu sein. Im Klartext hieß das, sie kamen mit uns in den Internationalen Seemannsclub, kurz Interclub genannt. 
Längst hatte ich eigene Erfahrungen gemacht. Ohne Diskussionen lernte ich, unter welchem Druck die Menschen standen. Was ging mich die Politik an, was ging mich die Vergangenheit an? Ich hatte diesen Krieg nicht angefangen, und ich hatte auch nicht mitgemacht.

Industrie- und Hafenanlagen an der Newa
Urheber:  Stan Shebs     Lizenz:  Creative Commons     Quelle: Wikipedia

Im Seemannsclub kannte man uns längst. Man ließ uns Tischtennis spielen, Tanzen oder auch Bücher lesen. Meist wurde ein Film gezeigt, und da bat man uns doch dazu. Nach diesem Film wurde diskutiert. Eigentlich reichte es immer, wenn man die technische Qualität des Films bemerkte. 

Auf dieser Reise war doch vieles anders. 
Ein recht alter Herr war als Passagier an Bord. Seine Familie hatte im nördlichen Ostpreußen ein großes Anwesen gehabt. An Bord wirkte er recht arrogant. Seine Überheblichkeit war nicht zu übersehen. Die Verkehrssprache im Interclub war Englisch. Das konnte er nun gar nicht. Sehr unwillig übersetzte ich für ihn. Es gelang mir, mich zu verkrümeln. 
Die Damen des Interclubs waren sehr intelligent, alle hatten sie ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Meine Begleitung kümmerte sich rührend um meine grammatikalischen Lücken in der englischen Sprache. 
Toleranz und das Ausklammern von Themen schaffte eine angenehme und freundschaftliche Atmosphäre. Alles war nett und machte viel Spaß. Dann kam die Leiterin des Interclubs gerade auf mich zu. Alles raste an mir vorüber. Aber so richtig hatte ich nichts angestellt, was diesen ernsten Ausdruck verdiente. 
Mitkommen solle ich bitte – nun kurzum, mein ostpreußischer „Junker“ hatte einen Eklat verursacht. Mit einigen Russen diskutierte er wild über die Notwendigkeit des deutschen Angriffskrieges. Ganz weiß war er im Gesicht. Aufhören solle er mit dem Blödsinn und sich wie wir verhalten. Wütende Angriffe nun auch gegen mich. Natürlich war es für mich leichter. Die Leitung im Club wusste um mein freundschaftliches Verhältnis mit dieser jungen Russin. Sie sah auch, dass man sich nach den Regeln benahm, häufig bat sie mich, zu übersetzen. Jetzt doch eindringlicher, forderte ich ihn auf, sofort aufzuhören. Nun – es ging nichts mehr. Mit sehr kalten Augen erklärte die Leiterin des Clubs unserem „Junker“, man wird seine Personalien aufnehmen, ihn an Bord bringen lassen, und er wird die Sowjetunion nicht mehr betreten. 
So recht verstand ich diesen alten Herrn nicht. Warum sah er es als seine Aufgabe an, mit der Identität eines Seemanns versehen, den Russen in ihrem Land zu erklären, sie hätten die Schuld an diesem Krieg? 
Die leitende Dame des Club fragte, ob sie etwas für mich tun könne. Jetzt, Ende Juni, bat ich, wie die Russen, die weißen Nächte von St. Petersburg an der Newa erleben zu dürfen. Lächelnd sagte sie uns das zu. Es ist dies die Zeit der Sonnenwende, Tausende von Russen spazieren an der Newa, die ganze Nacht. 
Vor mehr als 100 Jahren war Bismarck in dieser Stadt preußischer Gesandter gewesen. Er verstand sich blendend mit den Russen.
Diese Kälte in den Augen unserer leitenden Dame und dann dieses gutmütige Verstehen und Erteilen einer solchen Ausnahmeregelung.

Grimmig wartete mein „Junker“ an Bord auf mich. Er überschüttete mich mit Vorwürfen. Fraternisieren mit dem Feind und unpatriotisch war noch das wenigste. Und mit meiner Bordzeitung bestimme ich auch noch die Meinung. 
Wie gesagt, sehr zart waren wir alle nicht auf diesem Schiff. Lachen musste ich. Hartnäckig folgte er mir in meine Kammer. 
Nun fand ich aber, dass das doch ein wenig weit ginge. Weit nach Mitternacht und dann diese Anfeindungen. Ich meinte, es sei zu viel. Langsam reifte ein Plan. Eine Presseerklärung müsse man herausgeben, meinte er. Mein Plan nahm konkrete Formen an. 
Zehn Kästen Bier für die Mannschaftsmesse und die sofortige Abgabe einer Presseerklärung. Dies wurde sehr entschlossen umgesetzt. Anders als wir kriegte unser Passagier immer und jederzeit jede Menge Bier. Er unterschrieb hier also eine Erklärung, wonach Deutschland nicht die Alleinschuld an diesem Krieg hatte. 
Das Bier wurde in die Messe geliefert. Lange dachte ich über Ähnlichkeiten von „Kuttel Daddeldu und Fürst Wittgenstein“ nach. 

Am nächsten Morgen folgte ein ernstes Gespräch mit dem Kapitän. Danach kamen dann aber andere, die mit unserem ostmärkischen Kapitän ein sehr viel ernsteres Gespräch führten. 
Abends kam mich dann meine russische Freundin aus dem Interclub für unseren Bummel durch die weiße Nacht von St. Petersburg abholen. Verabschiedet wurden wir von grimmigen Blicken meines preußischen „Junkers“. 
Sicherlich dachte er über diese Fraternisierung mit dem Gegner von einst nach. Folgen durfte er nun aber nicht. Der russische Wachposten hatte gute Orders erhalten. 
Ob er wohl von dem guten Verhältnis der Russen zu Bismarck in St. Petersburg gewusst hat? 
Was müssen das doch für grandiose Feste hier einst gewesen sein? 
Warum gelang es uns nicht, diese Freundschaft zu bewahren? 
Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt; sie wären rein zufällig!
Die Newa bei St. Petersburg    (Postkarte 60er Jahre)

[¹]  "Indianerblut" oder auch "Hollands Rache"  waren die seemännischen Bezeichnungen  für den in den Niederlanden und Belgien beliebten blutroten
       "Bessen Genever" (Beeren Genever). Ein Schnaps, der wegen seiner anscheinend harmlosen, in Wahrheit aber agressiven Wirkung  so manchen 
        Seemann "außer Gefecht" gesetzt hat. "Indianerblut" trinken konnte man offensichtlich nicht lernen ! 
        Gutes "Indianerblut" konnte man bis zu 25%  mit Wasser verdünnen. Darunter litt die Wirkung, nicht aber der Geschmack !  (HBu)

Bildnachweis:
Abb.1  Urheber: Stan Shebs  (Lizenz:  Creative Commons    Quelle:  Wikipedia )
Abb.2  Postkarte aus St. Petersburg ca.1961 (Urheber nicht genannt, Quelle: Günter Klepke)

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Version: 25-Oct-12 / Rev.: 27-Oct-12 / HBu