Es war ein sehr heißer
Sommer in diesen 60er Jahren, und sicherlich waren wir nicht die Zierde
der deutschen Handelsschiffahrt. Länger als ein halbes Jahr waren
die meisten schon an Bord. Immer wieder war das Schiff in Deutschland;
wir kamen aber nicht nach Hause. Leningrad - Rotterdam war die Route. Eine
eigenartige Seefahrt: einige Tage auf See und einige Wochen in den Häfen.
Durch den Kiel-Kanal. ‚Ramdösig’
wurde man, sah man die Leute am Kanal flanieren. In Rotterdam das Liegen
im Strom. An Land Amstel und Indianerblut[¹].
In Leningrad die Obhut des Interclubs.
Viele trübe Erfahrungen
hatte die Reederei mit uns und wir mit der Reederei gemacht. Es war die
große Zeit der Holzfahrt.
Jeder an Bord hatte so seine
Schwächen. Meinte jemand, er sei ohne Fehl; musste man nur lange genug
warten bis Gewesenes getoppt wurde.
Der Kapitän kam aus
Österreich, ledig war er. Und sicherlich wollte die Reederei ihm etwas
Gutes tun: sechs Studienrätinnen schickte man ihm als Passagiere an
Bord. Sichtlich freute er sich: die große Auswahl, wie ein Sechser
im Lotto. Leicht gedämpft wurde die Freude später, sie waren
alle schon pensioniert, und sie hatten viele Fragen an ihn.
So ganz zart ging man nicht
miteinander um: strich er uns Kantine und Vorschuss, so zeigten wir ihm
recht unverhohlen unsere Vorliebe für österreichische Kapitäne.
Da gab es eine Freibordmarke und auch Rollperioden wurden gemessen. Wie
dicht lagen nun wirklich gewichtsmäßiger und räumlicher
Schwerpunkt beieinander?
Das Wetter war schön
und die Reederei sah vieles anders. Von Bord des Lotsenbootes sah er sich
noch einmal „sein Schiff“ an, was aber schon nicht mehr seines war. Er
hatte einen Sack gekriegt. Seltene Einmütigkeit, dass er den auch
verdient hatte. Es war viel Fluktuation im personellen Bereich.
Lebhaft erinnere ich den
Kochsmaaten, der sein Hab und Gut auf ein Bettlaken warf, vier Knoten machte
und damit in Kiel-Holtenau von Bord gehen wollte. Erst als er schriftlich
anerkannte, dass es sich um ein reederei-eigenes Laken handelte, ließ
man ihn gehen.
Eigentlich gab es nur die
Möglichkeit, mitmachen oder auszuscheren.
Es herrschte Kalter Krieg.
Aber in der Seefahrt hatte sich vieles schon eingependelt. Und von vielen
Leuten wurde die Seefahrt auch als Loch für die strengen Visum-Bestimmungen
angesehen. „Unangemustert befinden sich folgende Personen an Bord“. Diese
Leute wurden an Bord als Passagiere behandelt, an Land jedoch wie Seeleute.
Das hieß, wie wir, hatten sie um Mitternacht an Bord zu sein. Im
Klartext hieß das, sie kamen mit uns in den Internationalen Seemannsclub,
kurz Interclub genannt.
Längst hatte ich eigene
Erfahrungen gemacht. Ohne Diskussionen lernte ich, unter welchem Druck
die Menschen standen. Was ging mich die Politik an, was ging mich die Vergangenheit
an? Ich hatte diesen Krieg nicht angefangen, und ich hatte auch nicht mitgemacht.
Im Seemannsclub kannte man
uns längst. Man ließ uns Tischtennis spielen, Tanzen oder auch
Bücher lesen. Meist wurde ein Film gezeigt, und da bat man uns doch
dazu. Nach diesem Film wurde diskutiert. Eigentlich reichte es immer, wenn
man die technische Qualität des Films bemerkte.
Auf dieser Reise war doch
vieles anders.
Ein recht alter Herr war
als Passagier an Bord. Seine Familie hatte im nördlichen Ostpreußen
ein großes Anwesen gehabt. An Bord wirkte er recht arrogant. Seine
Überheblichkeit war nicht zu übersehen. Die Verkehrssprache im
Interclub war Englisch. Das konnte er nun gar nicht. Sehr unwillig übersetzte
ich für ihn. Es gelang mir, mich zu verkrümeln.
Die Damen des Interclubs
waren sehr intelligent, alle hatten sie ein abgeschlossenes Hochschulstudium.
Meine Begleitung kümmerte sich rührend um meine grammatikalischen
Lücken in der englischen Sprache.
Toleranz und das Ausklammern
von Themen schaffte eine angenehme und freundschaftliche Atmosphäre.
Alles war nett und machte viel Spaß. Dann kam die Leiterin des Interclubs
gerade auf mich zu. Alles raste an mir vorüber. Aber so richtig hatte
ich nichts angestellt, was diesen ernsten Ausdruck verdiente.
Mitkommen solle ich bitte
– nun kurzum, mein ostpreußischer „Junker“ hatte einen Eklat verursacht.
Mit einigen Russen diskutierte er wild über die Notwendigkeit des
deutschen Angriffskrieges. Ganz weiß war er im Gesicht. Aufhören
solle er mit dem Blödsinn und sich wie wir verhalten. Wütende
Angriffe nun auch gegen mich. Natürlich war es für mich leichter.
Die Leitung im Club wusste um mein freundschaftliches Verhältnis mit
dieser jungen Russin. Sie sah auch, dass man sich nach den Regeln benahm,
häufig bat sie mich, zu übersetzen. Jetzt doch eindringlicher,
forderte ich ihn auf, sofort aufzuhören. Nun – es ging nichts mehr.
Mit sehr kalten Augen erklärte die Leiterin des Clubs unserem „Junker“,
man wird seine Personalien aufnehmen, ihn an Bord bringen lassen, und er
wird die Sowjetunion nicht mehr betreten.
So recht verstand ich diesen
alten Herrn nicht. Warum sah er es als seine Aufgabe an, mit der Identität
eines Seemanns versehen, den Russen in ihrem Land zu erklären, sie
hätten die Schuld an diesem Krieg?
Die leitende Dame des Club
fragte, ob sie etwas für mich tun könne. Jetzt, Ende Juni, bat
ich, wie die Russen, die weißen Nächte von St. Petersburg an
der Newa erleben zu dürfen. Lächelnd sagte sie uns das zu. Es
ist dies die Zeit der Sonnenwende, Tausende von Russen spazieren an der
Newa, die ganze Nacht.
Vor mehr als 100 Jahren
war Bismarck in dieser Stadt preußischer Gesandter gewesen. Er verstand
sich blendend mit den Russen.
Diese Kälte in den
Augen unserer leitenden Dame und dann dieses gutmütige Verstehen und
Erteilen einer solchen Ausnahmeregelung.
Grimmig wartete mein „Junker“
an Bord auf mich. Er überschüttete mich mit Vorwürfen. Fraternisieren
mit dem Feind und unpatriotisch war noch das wenigste. Und mit meiner Bordzeitung
bestimme ich auch noch die Meinung.
Wie gesagt, sehr zart waren
wir alle nicht auf diesem Schiff. Lachen musste ich. Hartnäckig folgte
er mir in meine Kammer.
Nun fand ich aber, dass
das doch ein wenig weit ginge. Weit nach Mitternacht und dann diese Anfeindungen.
Ich meinte, es sei zu viel. Langsam reifte ein Plan. Eine Presseerklärung
müsse man herausgeben, meinte er. Mein Plan nahm konkrete Formen an.
Zehn Kästen Bier für
die Mannschaftsmesse und die sofortige Abgabe einer Presseerklärung.
Dies wurde sehr entschlossen umgesetzt. Anders als wir kriegte unser Passagier
immer und jederzeit jede Menge Bier. Er unterschrieb hier also eine Erklärung,
wonach Deutschland nicht die Alleinschuld an diesem Krieg hatte.
Das Bier wurde in die Messe
geliefert. Lange dachte ich über Ähnlichkeiten von „Kuttel Daddeldu
und Fürst Wittgenstein“ nach.
Am nächsten Morgen
folgte ein ernstes Gespräch mit dem Kapitän. Danach kamen dann
aber andere, die mit unserem ostmärkischen Kapitän ein sehr viel
ernsteres Gespräch führten.
Abends kam mich dann meine
russische Freundin aus dem Interclub für unseren Bummel durch die
weiße Nacht von St. Petersburg abholen. Verabschiedet wurden wir
von grimmigen Blicken meines preußischen „Junkers“.
Sicherlich dachte er über
diese Fraternisierung mit dem Gegner von einst nach. Folgen durfte er nun
aber nicht. Der russische Wachposten hatte gute Orders erhalten.
Ob er wohl von dem guten
Verhältnis der Russen zu Bismarck in St. Petersburg gewusst hat?
Was müssen das doch
für grandiose Feste hier einst gewesen sein?
Warum gelang es uns nicht,
diese Freundschaft zu bewahren?
Diese Geschichte ist frei
erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht beabsichtigt;
sie wären rein zufällig! |
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Die Newa bei St.
Petersburg (Postkarte 60er Jahre)
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[¹]
"Indianerblut" oder
auch "Hollands Rache" waren die seemännischen Bezeichnungen
für den in den Niederlanden und Belgien beliebten blutroten
"Bessen Genever" (Beeren Genever). Ein Schnaps, der wegen seiner anscheinend
harmlosen, in Wahrheit aber agressiven Wirkung so manchen
Seemann "außer Gefecht" gesetzt hat. "Indianerblut" trinken konnte
man offensichtlich nicht lernen !
Gutes "Indianerblut" konnte man bis zu 25% mit Wasser verdünnen.
Darunter litt die Wirkung, nicht aber der Geschmack ! (HBu)
Bildnachweis:
Abb.1 Urheber:
Stan
Shebs (Lizenz: Creative
Commons Quelle: Wikipedia
)
Abb.2 Postkarte
aus St. Petersburg ca.1961 (Urheber nicht genannt, Quelle: Günter
Klepke)
Version:
25-Oct-12 / Rev.: 27-Oct-12 / HBu
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