Von der Vergewaltigung des Herings
Ein Aufsatz von © 2000: Jens Rösemann
Bild: Meyers Konvers.-Lexikon von 1888, 4. Auflage, 6. Band

„Neben Aal und Makrele und Forellen liegen frische holländische Matjes aus dem Fass...“ So wird uns grammatikalisch etwas bedenklich das Angebot eines neu eröffneten Fischgeschäfts in Bremen-Nord geschildert. Ausgerechnet in der ehemaligen Hochburg des Treibnetz-Heringsfangs. Frische Matjes im Dezember - wenn das nicht einer Disqualifikation gleichkommt!

 „Seegekehlt und gesalzen“, das war Werbespruch und Qualitätsmerkmal des Loggerherings. Fisch-Industrie und -Handel wollen uns heute weismachen, dass es diese Qualität jetzt noch gibt oder - schlimmer noch - , dass die heutigen Produkte denen von einst überlegen sein sollen. In unserer Region zumindestens muss dagegengehalten werden.

 Salzhering „seegekehlt und gesalzen“: Der Hering, in Treibnetzen schonend gefangen, wurde unmittelbar nach dem Fang, den er meist noch lebend, ohne Verlust von Schuppen und äusserlich unbeschädigt überstand, gekehlt. D.h. die bluthaltigen Kiemen und Gedärme wurden entfernt. Der gekehlte Hering blutete aus, wobei das gleichzeitige Salzen diesen Vorgang noch unterstützte. Eine Nematodenbildung konnte bei dieser Verarbeitung nicht auftreten.


Der Hering (Clupea harengus)

Nachdem dieser Hering ca elf Tage im Fass gereift war, liess er sich problemlos enthäuten und entgräten. Das Fleisch war hell und fettglänzend. In diesem Zustand konnte er ohne Wässerung mit großem Genuss verzehrt werden. Eine Wässerung empfahl sich nur nach mehrwöchiger bzw. monatelanger Lagerung im Fass, die er ansonsten aber unbeschädigt überstand. Ein überaus haltbares und gesundes Nahrungsmittel.

Matjes war die Krönung des Salzherings. Stellte man an Bord der Logger etwa gegen Ende Mai fest, dass der gefangene Hering, der noch keinen Rogen oder Milch angesetzt hatte, äusserst fetthaltiges Fleisch und einen starken schneeweissen Fettansatz in der Bauchhöhle aufwies, dann wurde er zu Matjes verarbeitet. Statt im Verhältnis 5:1 wurde er 9:1 (Gewichtsanteil Hering zu Salz) gesalzen. Die Fässer wurden speziell markiert. Diese „Matjes“ kamen als Delikatesse mit begrenzter Haltbarkeit in den Handel. Eine besondere Klasse waren seinerzeit „Eis-Matjes“, die eine Weile in Brauerei-Kellern, die derzeit noch mit Natur-Eis beschickt waren, für kurze Zeit eingelagert wurden. Die oben angeführte begrenzte Haltbarkeit kann man ungefähr so definieren, daß zu ihrem Verzehr noch junge Bohnen und frische Frühkartoffeln gereicht werden konnten.

Wie kommt es nun, dass jetzt rund um den Kalender zu jeder Jahreszeit „frische“ Matjes, meist noch mit dem Zusatz „lecker“, angeboten werden? Dazu ein Beispiel: Am 31.Mai 1998 wurde in Bremen mit dem üblichen Tamtam die Matjes-Saison eröffnet. Ein gleichzeitiger Anruf beim Auktionsbüro Hanstholm in Jütland, wo der Löwenanteil des Herings angelandet wird, ergab, dass bis zu diesem Zeitpunkt kein angelandeter Hering bezüglich des Fettgehalts die EG-Norm erfüllte, geschweigedenn den Fettgehalt aufwies, den man früher zur Produktion von Matjes als notwendig erachtete. Fatal, dass die Heringe in ihrer Entwicklung sich nicht an den Termin der Matjes-Feierlichkeiten hielten!

 Moderne Technik beim Fanggeschirr und bei der Fischortung haben den resourcenschonenden Treibnetzfang verdrängt. Es ist jetzt möglich, ganze Heringsschwärme zu orten und komplett einzufangen. Jedoch eine fangfrische Verarbeitung des Herings sowohl bei der pelagischen als auch bei der Ringwaden-Fischerei findet nicht statt. Bei den wenig schonenden Fangmethoden verlieren die Heringe alle Schuppen und werden erst verarbeitet, wenn sie schon innerlich verblutet sind. Bei diesem Umgang mit dem empfindlichen Gut Seefisch besteht die Gefahr des Nematodenbefalls. Daher schreibt eine EG-Norm vor, dass die Heringe 24 Stunden schockgefroren werden müssen, was der Qualität des Fisches ansonsten wenig zuträglich ist. Dessenungeachtet konstruiert die Fischindustrie hieraus eine Qualitätsverbesserung unter der Überschrift: „Jeder Matjes war mal tiefgefroren.“
Diese auch noch auf andere Weise misshandelten Heringe werden dann auf vielfältige Weise verarbeitet. Gemeinsam ist ihnen allen, dass ihr Fleisch mit Blut durchsetzt ist und dadurch eine dunkle Färbung aufweist. Der Geschmack hat wegen des Blutes eine gewisse Bitterkeit angenommen. Bei den Fischkonserven ist das trotz aller möglichen Saucen für jeden Laien zu erkennen. Um die dunkle Färbung etwas aufzuhellen, wird oft eine nicht deklarationspflichtige Chemikalie eingesetzt, die zu der Familie gehört, mit denen Blondinen aufgehellt werden.

Bei Salzhering oder Matjes fällt auf, dass die Haut nur mit grosser Mühe zu entfernen ist. Besonders übel der dicke dunkle Blutstreifen auf beiden Seiten. Da Fleisch und Gräten mit Blut durchsetzt und entsprechend verhärtet sind, lassen sich beide Teile nur stückweise und in Fetzen voneinander trennen. Im Gegensatz zu Salzheringen und Matjes aus der Loggerzeit, die man. nachdem ihnen problemlos die Haut entfernt wurde, mit flottem Schwung von beiden Teilen der Schwanzflosse her in Grätenskelett und Fleisch teilte.

Beim Angebot von „Matjes“ oder Salzhering aus dem Fass tritt jedenfalls für jeden, der sich traut, diese Produkte für den häuslichen Verzehr zuzubereiten, ihr jammernswerter Zustand beeindruckend zutage:

Wabbelige, schuppenlose Gestalten in einer undefinierbaren Brühe, die den Pökel darstellen soll; um den Eindruck eines seegekehlten Herings zu suggerieren, sind ihnen nachträglich mit einem brutalen Schnitt, wahrscheinlich durch einen Automaten, die Kiemen unvollständig  entfernt worden, natürlich ohne wirkliche Qualitätsverbesserung erreicht zu haben.

Können Sie, lieber Leser, sich vorstellen, dass mir als ehemaligem Logger-Jantje der Appetit vergeht? Lassen Sie uns gemeinsam hoffen, dass es irgendwann jemand versucht, mit Qualität Geld zu verdienen. Dazu soll auch dieser kleine Aufsatz beitragen.
 
Für weitere Informationen:
Jens Rösemann
Mühlental 2
28717 Bremen
Tel 0421-633205
„Kok-in-Ruum“ auf dem Heringslogger
Eine Jugend auf See oder das Streben nach Vollkommenheit
Erschienen im Döll-Verlag 
128 Seiten, DM 29,80


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Version: 22-Jan-00 / JRö / Rev.: 13-Jun-11 / HBu