Seefunk - sozial
Ein kurzer Essay von Robert R. Kühn (© 2007)

Was ist denn überhaupt „sozial“ ?  Vereinfacht : die Verbindung verschiedener Menschen und/oder Gruppen, um miteinander kommunizieren zu können. Beispiele : Schiff und Kneipe
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Beispiel Schiff : Die Besatzung eines Schiffes bildet eine Gruppe, die miteinander redet. Sofern sie nur über „Arbeit“ redet, ist die Bedingung „soziale Gruppe“ nicht erfüllt. Die klassische soziale Gruppe, die alle Anforderungen an „sozial“ erfüllt, ist die Runde, die sich nach Ende der Arbeitszeit der „Tagelöhner“ täglich hinter der Kombüse trifft. 
Die Bedingungen, eine soziale Gruppe zu sein, wird an Bord nur teilweise erfüllt. Die Hierachie der Besatzung (Schiffsoffiziere versus Mannschaftsdienstgrade) verhindert gruppendynamische Entwicklungen: Wer ist Anführer? Von daher ist die soziale Struktur schon belastet. Echte soziale Gruppen bilden sich nur unter den Mannschaftsdienstgraden aus, getrennt nach Deck und Maschine. Soziale Strukturen etwa in der Beziehung des Kapitäns zu seinen Offizieren werden im Regelfall  durch die Rangordnung verhindert. 
Wer „kommuniziert“ denn wirklich „sozial“, d.h. ohne Bezug zu einem Zweck, mit anderen? Es kann nur der FO, weil er außerhalb der Hierarchie steht und an den Arbeitsvorgängen nicht beteiligt ist. Seine besondere soziale Funktion besteht auch darin, dass er eine, wenn auch beschränkte Verbindung zur Außenwelt aufrechterhält. Indem er u.a. Nachrichten aus dem Seegebiet, von Kompanieschiffen auffängt („frag mal, ob Meyer noch an Bord ist !“) verhindert er, dass sich eine Ghetto-Mentalität breitmacht.

Die übergeordnete soziale Gruppe ist die Menge der Schiffe in einem Seegebiet, die miteinander in Kontakt stehen. Ursprünglich für den Zweck „keep together for mutual support“ hat sich der tägliche Kontakt zu einer sozialen Institution entwickelt. Die Weigerung, sich an einer derartigen sozialen Gruppe zu beteiligen, hat vielen Menschen der „Pamir“ / DKEF das Leben gekostet. Der Grund : der FO auf dem HAPAG-Schiff  „Brandenburg“; der seine erste Reise als FO machte, war mit Verwaltung so zugedeckt worden, dass er den Funkdienst vernachlässigen musste und an der „sozialen Gruppe“ im Seegebiet nicht beteiligt war. So wusste er nicht, dass die „Pamir“ in unmittelbarer Nähe stand. 
Bei der Aufnahme der Notmeldung hat sich der FO auf der „Brandenburg“ / DIMF verhört und in der mitgeteilten Position der Breite der havarierten „Pamir“ eine 4 statt 5 (oder umgekehrt) gelesen, sodass die „Brandenburg“ 600 sm weiter von der „Pamir“ entfernt stand als wirklich. Der Kapitän der „Brandenburg“ hat daraufhin, seemännisch korrekt, die Reise fortgesetzt. Der FO hat sich dann wieder um seine Verwaltung gekümmert statt den Seenotfall weiter zu beobachten. Einige Stunden später, auf der nächsten Wache nahm er die wiederholte Notmeldung auf, die inzwischen vom Leiter auf dem Seegebiet gesendet wurde. Nun bemerkte er seinen Irrtum und hat dies sofort dem Kapitän mitgeteilt. 
Was danach passiert ist nie ganz geklärt worden. Fakt ist, dass nach einiger Zeit – nach welcher ist unsicher - bekam der Alte kalte Füße und war sich darüber klar worden, dass er die Hilfe verweigert hatte. So erfand er eine schwere Erkrankung bei sich, lief den nächstgelegenen Hafen an und ließ sich ins Krankenhaus bringen. 
Die „Pamir“ ist nicht im Sturm havariert, sondern hat bei Bft 8-9 wegen zu großer Segelfläche hart übergeholt und die Getreideladung ist verrutscht. Das Schiff hat noch stundenlang mit zunehmender Schlagseite geschwommen. Überliefert ist, dass sich alle ins Rigg gerettet hatten und sicher waren, bald gerettet zu werden. Es soll eine fröhliche Stimmung geherrscht haben. Außer der „Brandenburg“ waren alle Schiffe, die die Notmeldung aufgefangen hatten, recht weit von der „Pamir“ entfernt. Im aufkommenden schweren Sturm ist die „Pamir“ schließlich gesunken. Die Suche nach Überlebenden war offenbar mit schweren organisatorischen Mängeln behaftet, sodass tagelang am falschen Ort gesucht wurde. Die „Pamir“ hätte nach Aussendung der Notmeldung noch gepeilt werden können und die „Brandenburg“ hätte in Zielfahrt die Unfallposition ansteuern können. 

Kapitän und Funker sind später der unterlassenen Hilfeleistung angeklagt worden. Dem Alten hat man die simulierte Krankheit geglaubt, der missbrauchte Funker wurde wegen unterlassener Hilfeleistung juristisch bestraft. Die HAPAG hatte sich vom  FO distanziert. 

PS : Dass ich die Zeiten Gegenwart und Vergangenheit miteinander gemischt habe liegt daran, dass Tatsachen Vergangenheit sind, die Gesetze des Zusammenlebens aber immer noch gültig sind.


Zum hier geschilderten Vorfall lesen Sie bitte auch "Der Fall MS "Brandenburg" - Unterlassene Hilfeleistung auf See?"
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Version: 06-May-07 / HBu