Der Beginn des Seefunkdienstes
Ein Bericht von Herrn Ing.Otto Reuter aus Leisnig in Sachsen - Zusammenstellung: H. Busch
Fotos:  Hapag-Postkarte, Radio Holland, Marconi Marine, PHOENIX TV

Hinweis: Dieser Bericht ist im Heft 5/1967 "Arbeitskreis Seefunk - Erfahrungen - Probleme - Berichte" erschienen. Der Abdruck an dieser Stelle erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Herrn Peter Volk aus Rostock.
Der Hapag-Dampfer "Pretoria"
Als ich 1907 mit dem Seefunkdienst an Bord des Hapag-Dampfers „Pretoria“ begann, waren die Leiter dieses Dienstes an Bord deutscher Dampfer noch Engländer. Wir unterstanden damals der „Marconi Company“, insbesondere deren Zweigstelle, der „Compagnie des Telègrafie sans Fil“ in Brüssel. Wir Anfänger mussten mit unserem Stationsleiter Englisch sprechen, denn der Betrieb und die Apparate waren englisch. Erst 1911 wurde der Funkbetrieb auf deutschen Schiffen von der DEBEG, der „Deutschen Betriebsgesellschaft für drahtlose Telegrafie m.b.H.“ in Berlin, übernommen.
links: Die "Pretoria"wurde 1898 bei Blohm & Voss in Hamburg für die Hapag gebaut. Sie war 170 m lang, 19 m breit, mit 13234 BRT vermessen, lief 14 Kn und konnte 2600 Passagiere aufnehmen.
Die erste Schule für den Seefunkdienst war um 1903 in Seaforth, bei Liverpool, von Marconi eingerichtet worden. Mr. Hobbs, der Leiter des Instituts war meist sehr ungnädig, dafür verstand er nichts vom Fach. Der eigentliche Lehrer war ein in jeder Hinsicht gewissenhafter, in seinem Fach wohl erfahrener, wirklicher Gentleman. Von den 40 Schülern waren die Hälfte Engländer und die andere Hälfte Ausländer, davon 6 Deutsche. Der Unterricht wickelte sich natürlich in englischer Sprache ab. Anfangs war es den Ausländern nicht leicht, ihm zu folgen. Dazu unterliefen ihnen die tollsten Sprachschnitzer. Für die Schüler und den Lehrer waren sie oft die Quelle unerwünschter Heiterkeit. Zu jener Zeit gab es höchstens zehn mit Marconi-Anlagen ausgerüstete englische Dampfer, dazu kamen noch etwa sechs deutsche Schiffe. Den 40 Studierenden war es rätselhaft, wie und wo man sie unterbringen wollte. Die Schule war mit bestem Material ausgestattet; eine Küstenfunkstelle war ihr angegliedert. Die solide Basis erweckte unbedingtes Vertrauen. Es gab nur ein System und davon lernte man auch die kleinsten Teilchen kennen, behandeln und reparieren.
Der Unterrichtsraum in Seaforth Sands (Foto: 1903)
Benutzt wurde damals schon der „Braunsche Schwingungskreis“. Die sogenannte Marconi-Schaltung „Plain Aereal“ durfte nur im Kanal mit „North Foreland Radio“ und „Lizard Radio“ verwendet werden. Erst viel später, als der „Fritter“ durch den „Magnetic Detector“ ersetzt wurde, haben die Funkoffiziere aus eigenem Antrieb und gegen das Verbot „Plain Aereal“ angewandt, weil der damals nicht abgestimmte Braunsche Schwingungskreis auf grössere Entfernung einfach versagte.
Einen Wellenmesser habe ich zuerst im Jahre 1918 kennengelernt. Vor dem Erscheinen dieses Ungetüms, das so gross wie ein Kabinenkoffer war, half man sich dadurch, dass die Grössenverhältnisse von Kapazität, Selbstinduktion und Antenne fest und unabänderlich blieben. Um einen Eingriff überhaupt zu verhindern, waren die Kästen, in denen man die Spulen untergebracht hatte, versiegelt. Die Antenne durfte nur genau 60 Fuss Länge haben. Die Verbindungen zwischen Funkenstrecke, Kapazität und Selbstinduktion, dem sogenannten „Jigger“, mussten so kurz wie möglich eingerichtet werden. 
Das Foto links zeigt die im Bericht erwähnte Küstenfunkstelle in Seaforth Sands.  (Foto: 1903) In den Gebäuden befand sich gleichzeitig das erste Marconi Service Depot.
Da der „Jigger“ stets an einer feststehenden Wand, die übrigen Apparate aber auf einem federnden Wackeltisch Aufstellung fanden, hatte das bei rollendem und stampfendem Schiff die Folge, dass sich die Verbindungsdrähte losarbeiteten.
Beim Funkverkehr mit Schiffen untereinander waren die Erfolge 20 Prozent besser als mit Landstationen. Oft wünschte man, der Dampfer möge seine Fahrt verlangsamen, denn bei einer Geschwindigkeit von 22 bis 24 Seemeilen mit einem Mindestabstand von 40 bis 60 Seemeilen, war die Zeit der guten Verständigung mit Telegraphie doch oft sehr kurz, namentlich, wenn zwei Lloyd-Schnelldampfer sich in 60 Meilen Abstand begegneten. Hinzu kam, dass noch viel Zeit vertrödelt wurde mit der Verringerung der Energie, bei Annäherung und deren Erhöhung, bei Entfernung voneinander; der Fritter verlangte ein ganz genaues Mass an Energie. 
Da stets zwei Empfangsapparate an Bord waren, wurde der eine mit einem sehr empfindlichen, der andere mit einem weniger empfindlichen Fritter eingestellt. Aber ganz vermeiden liessen sich die Rückfragen nicht, ebenso die ständigen Mahnungen: „verstärken Sie“ oder „verringern Sie“ die Energie. Mit dem Austausch dieses notwendigen Dienstverkehrs ging viel Zeit für den eigentlichen Telegrammwechsel verloren. Es wurde besser, als der Magnetic-Empfänger zur Einführung kam.
In der ersten Zeit, den sogenannten „Kinderjahren“, war nach dem Aufgeben der letzten Versuche mit „Lizard Radio“ auf dem freien Ozean sehr wenig Gelegenheit, sich zu betätigen. Die wenigen Schiffe mit Funkausrüstung lagen dazu meist noch so weit auseinander, dass eine Verbindung eine reine Glücksache war.
Einige Schwierigkeiten verursachte deshalb die Führung des Tagebuches, in das genau, nach Greenwicher Zeit, alle Begebenheiten einzutragen waren, die mit dem Funkdienst zusammenhingen. Die Eintragungen wurde schliesslich so stereotyp, dass sie sowohl dem Schreiber, als auch für die Kontrollstelle des Zentralbüros in London ermüdend langweilig waren. Das Londoner Büro hatte daher für humorvolle Eintragungen dankbares Verständnis, selbst wenn der Humor einmal für deutschen Geschmack zu weit ging. Die Hauptsache war immer, dass der Betrieb an sich nicht darunter litt und das vornehmste Ziel: Alle vorliegenden Telegramme auf schnellstem Wege ihrer Bestimmung zuzuführen, erreicht wurde. 
In einem Punkt verstand die Direktion in London keinen Spass. Die Akkumulatoren mussten sorgsam gepflegt werden, denn sie waren das letzte Energiemittel, wenn die Dynamos ausfielen. 
Der Tagesbericht musste stets ausweisen, wie lange die Akkus geladen worden waren und welche Spannung sie aufwiesen. Die Akkumulatoren durften nicht aus den Augen gelassen werden, solange geladen wurde, weil stets die Befürchtung bestand, dass die Lichtmaschine „umgepolt“ wurde. Auf einem Schiff, das von deutschen Werften stammte, habe ich das nie erlebt; aber auf englischen war die Umpolung üblich, weil man dadurch die Lebensdauer der Kohlefadenlampen glaubte erhöhen zu können. 
Manchmal war im Tagebuch mehrere Tage nur zu lesen, dass CQ ohne Erfolg gerufen wurde und die Akkus ein- und ausgeschaltet worden waren, bis endlich auf einen Anruf eine Antwort eintraf. 
Ein Engländer namens Waterson zeigte sich bei seinen Tagebucheintragungen ganz besonders exzentrisch. Das Zentralbüro in London wartete immer gespannt auf seine Berichte. Sie lasen dann zum Beispiel: 
08.30 rief CQ ohne erfolg 
09.20 lade akkus 
09.30 sah ein kakerlak an der decke laufen 
09.31 lade den revolver 
09.32 gab dem kakerlak noch zwei fuss vorsprung 
09.34 erschoss ihn 
Waterson hatte ihn gut getroffen. Das Kugelloch, aus dem ein Paar Kakerlakenbeine und zerrissene Körperteile herausschauten, wurde später sorgsam aus dem Decksbalken herausgetrennt. Unter Glas und Rahmen ist die Reliquie aus der „Postkutschenzeit“ des Seefunkwesens lange Zeit in der Offiziersmesse jenes Dampfers, auf dem sich dieser „Mord“ zugetragen hat, ausgestellt gewesen.


Foto oben:  Ehemalige Morconi-Funkoffiziere und die Debeg-Direktion trafen sich 1911 nach der Übernahme der Marconi-Stationen auf deutschen Schiffen durch die Debeg an Bord des Hapag-Dampfers "Cincinatti" in Hamburg. Otto Reuter hat die abgebildeten Personen folgendermassen zugeordnet: 1 Dr. Bredow, 2 Graf Arco, 3 Otto Reuter, 4 Herr Eger, 5 Herr Behner, 6 Herr Meymann, 7 Herr Morgenstern, 8 Herr Schulte, 9 Herr Bading, 10 Herr Stoye, 11 Herr Schönherr, 12 Herr Steincke, 13 Herr Peters, 14 Herr Simon, 15 Herr Steinwarder, 16 Herr Westphal. Folgende Namen konnten nicht zugeordnet werden: Herr Numrich, Herr Heiler, Herr Böhme, Herr Huifner und Herr Sölter.
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Version: 03-Jan-03 / Rev.: 20-May-08 / 11-Jun-11 / HBu